Das Buch beginnt mit Jutta von Sponsheims Weihe im Jahr 1106 1 auf dem Disibodenberg und ihrem Einzug dort in die Frauenklause, begleitet von stolzen Rittern und vornehmen Burgfräuleins. Mit dabei sind die 8-jährigen Hildegard und eine Dienerin, den Klosterberuf auszuüben. Hildegard war in Bermersheim 1 geboren und hatte keine Probleme, sich in das Klosterleben zu fügen, da sie in ihrer Kemenate 2 wegen ihrer Schwächlichkeit und Krankheiten so gut wie immer alleine gewesen war.
Die Frauenklause war ein richtiges Frauenkloster mit allen Funktionsräumen, auch einem Sprechzimmer.3 Von diesem aus konnten sie sogar den fahrenden Sängern lauschen – daher Hildegards weltoffene Liebe zur Musik.
Im Jahr 1112 erfolgte Hildegards eigene Weihe zur Nonne. Im Jahr 1136 übernahm Hildegard dann auf Befehl des Abtes die Nachfolge der verstorbenen Jutta von Sponheim als neue Meisterin.
Die Mönche des Klosters Disibodenberg, an welches die Frauenklause angegliedert war, verwalteten den Frauenklosterbesitz, der aus den Mitgiften der Nonnen wie Dörfern, Feldern und Mühlen entstanden war. Dabei nutznießten die Mönche in nicht unerheblichen Maß. Sie lebten sozusagen von der Nonnen Mitgift-Einnahmen, sie waren quasi abhängig davon. So mußte Hildegard sich regelrecht für den Weggang auf den Rupertsberg von den Mönchen durch Überlassung eines Teils des Frauenklosterbesitzes freikaufen.
Hildegard zog sodann mit 18 Schwestern zum Rupertsberg und errichtete einen modernen Klosterbau für 50 Nonnen, die Backstube direkt neben der Küche und Röhrenleitungen für frisches Wasser überall – ein Novum in dieser Zeit des Mittelalters! Das Kloster war ein „Gasthaus Gottes“ für Fremde und Wegemüde.
Ebenfalls ein Novum: Hildegard ließ rückfällige und widerspenstige Burgfräuleins wieder ins freie Ritterleben zurückkehren. Welch eine einsichtige und heute immer noch moderne und richtungsweisende Frau!
Ihr Buch „Über die Ursachen und Heilungen der Krankheiten“ 4 ist auch ein Novum, denn es ist das 1. ärztliche Buch überhaupt, das in Deutschland geschrieben wurde.
Im Jahr 1155 traf sie in der Ingelheimer Kaiserpfalz Kaiser Friedrich Barbarossa und führte mit ihm eine Unterredung, die weitreichenden Einfluß auf Barbarossa hatte. Noch ein Novum, denn welche Frau hatte in der Weltgeschichte bis damals Zugang zu den höchsten weltlichen, politischen Herren?
Hildegard lebte zur Zeit des Investiturstreites (1078–1122), der gesellschaftspolitisch in Europa für Furore sorgte, wer denn nun Kirchenfürsten einsetzen dürfe – der Papst oder der Kaiser. Es wurde geregelt, salopp gesagt, daß der Papst die Kirchenfürsten erwählte und einsetzte, diese aber mit den Insignien der weltlichen (kaiserlichen) Macht ausgestattet wurden.5 In dieser Umbruchsituation ist Hildegards Handeln zu sehen, auch der Rat an Barbarossa oder die gottbestimmten Prophetenreisen der siechen, alten Frau – schon wieder ein Novum, denn bis dahin gab es keine umherziehenden, predigenden Frauen! Diese wären sofort als Hexen, besser gesagt als Magier oder Zauberer abgetan und verurteilt worden. Hildegard gestand man dies aber zu bzw. forderte es von ihr sogar.
Hildegard starb als 81-jährige im Jahr 1179. Am Todestag geschah ein fulminantes Lichtereignis am Himmel, das zeigen sollte, mit welcher Klarheit Gott seine geliebte Braut im Himmel verherrlichen werde – Hildegard wurde dadurch gewissermaßen zur Lichtträgerin 6 gemacht.
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„Die Morgendämmerung der Sonntagsnacht zog über der Stätte auf. Da erschienen am Firmament 2 Bogen, hell leuchtend in verschiedenen Farben. Gleich breiten Straßen dehnten sie sich nach den 4 Himmelsrichtungen aus. Die eine Bahn zog von Mitternacht (= Norden) gen Mittag (= Süden), die andere von Morgen (= Osten) gen Abend (= Westen). Im Scheitelpunkt, in dem die beiden Bogen sich trafen, erschien ein helles Licht in mondförmigem Kreis. So weit ergoß sich Leuchten rings umher, daß es die Schatten der Nacht von der Stätte verscheuchte. In diesem Licht wurde ein rötlich schimmerndes Kreuz sichtbar, erst kelin, allmählich aber anwachsend zu ungeheurer Größe. Dann tauchten um dasselbe unzählige bunte Kreise auf. Aus jedem erstrahlte wiederum ein anfangs kleines, rotschimmerndes Kreuzlein. Als nun all diese Kreuze sich weit am Firmament ausgedehnt hatten, sogen sie in ihrer breiten Ausspannung gen Sonnaufgang hinab. Es schien, als ob sie sich zur Erde neigen wollten, hin zur Stätte, von der aus die heilige Jungfrau hinübergegangen war. Und nun war der ganze Berg von hellem Licht umflutet.“
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1 = Neuere Erkenntnisse (Prof. Dr. Franz Staab, 1992/1997) ergeben Schloß Böckelheim als Geburtsort Hildegards und den Einzug in das Kloster Disibodenberg für das Jahr 1112, das erst im Jahr 1108 gegründet worden war. Vgl. im Buch „Die Orte der Heiligen Hildegard von Bingen in Bingen am Rhein und anderswo“ von Michael Dietz, 2013, „Geburtsorte“ der Hildegard von Bingen.
2 = Zimmer, Frauengemach einer Burg.
3 = „Parlarium“. Die Benediktinermönche und –nonnen mußten im Allgmeinene schweigen, außer beim Gebet oder zu wenigen, vorbestimmten Zeiten im Parlarium.
4 = „Causae et Curae“.
5 Vgl etwa Fürstäbte oder Bischöfe als Territorialherrscher.
6 Dies allerdings hat nichts mit dem Begriff „Sci Vias Lucis“ (fälschlich auch „Scivias Lucis“; = „Wisse die Wege des Lichts“) zu tun, der vollkommen ungerechtfertigt und vor Allem in der Historie nicht belegt ist. Es ist die anmaßende Abwandlung von Hildegards Buchtitel „Sci Vias Domini“ (= „Wisse die Wege des Herrn“). „Sci Vias Lucis“ war nie in Hildegards Sprachgebrauch und es gibt auch keine Schrift dieses Namens noch kann man den Begriff leichtfertigerweise als Synonym für Hildegards Visionen bzw. Visionsfähigkeit verwenden.